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Stichtag: 30. September 1817 - Geburt des linksdemokratischen Journalisten Karl Grün in Lüdenscheid

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Die Presselandschaft in Wesel ist traditionell sehr vielfältig und auch überregional bedeutend. Zu den bekanntesten Druck- und Verlagsbetrieben gehört sicherlich der von Johann Bagel und seinen Söhnen. August Bagel kauft 1841 den bis dahin in Hamm erschienenen „Westfälischen Anzeiger“, der in Wesel als „Der Sprecher oder: Rheinisch-Westfälischer Anzeiger“ veröffentlicht werden sollte. Das Blatt geriet in Wesel schnell mit linksliberalen, demokratischen und sogar sozialistischen Tendenzen ins Visier der Zensur und wurde erst Ende 1844 wieder deutlich gemäßigter. Für den radikalen Kurs war Karl Grün verantwortlich, der zwischen 1843 und 1844 als Redakteur für die politische Ausrichtung des „Sprechers“ verantwortlich zeichnete und als einer der führenden Repräsentanten der sozialistischen Bewegung in Deutschland gilt. Unter der Ägide Grüns gehörte der „Sprecher“ zweifellos zu den bedeutendsten politischen Publikationen des Vormärz.

Am 30. September 1817 war Karl Theodor Ferdinand Grün in Lüdenscheid als Sohn eines mittellosen Volksschullehrers geboren worden. Nach Besuch der örtlichen Volksschule besuchte er das Gymnasium in Wetzlar, woher sein Großvater mütterlicherseits stammte. Nach dem Abitur begann Grün ein Studium der evangelischen Theologie und Philologie in Bonn, wo er in einem „poetischen Kränzchen“ u.a. auf Karl Marx traf. Ab 1838 begann er dann ein Studium der Philosophie und Philologie in Berlin. Dass er dort promoviert haben soll, erscheint wenig wahrscheinlich, denn noch im selben Jahr siedelte er nach Colmar im Elsass über, um dem Militärdienst zu entgehen. Hier war Grün als Lehrer für Deutsch und deutsche Literatur tätig. Seine Berufung scheint er hierin nicht gesehen zu haben, denn wenige Monate später widmete er sich ausschließlich der freien Schriftstellerei und ließ sich dabei von den liberalen Dichtern des Vormärzes – der sogenannten jungdeutschen Bewegung – beeinflussen. Sein 1839 erschienenes Erstlingswerk „Buch der Wanderungen Ostsee und Rhein“, in dem er vordergründig Reiseerlebnisse aus seiner Studentenzeit verarbeitet hat, widmete er dann mit Karl Gutzkow auch einem der führenden Literaten der Jungdeutschen. Das Buch wurde unter dem Pseudonym Ernst von der Haide veröffentlicht.

1842 gründete Karl Grün in Mannheim die radikale „Mannheimer Abendzeitung“ und wurde auf Drängen der Zensur noch im selben Jahr aus dem Großherzogtum Baden ausgewiesen. Damit war Grüns Mannheimer Organ das erste von der Zensur völlig unterdrückte deutsche Periodikum. Die badische Regierung sorgte schließlich dafür, dass die Ausweisung auch auf die bayrische Rheinpfalz ausgeweitet wurde. Diese Erfahrung verarbeitete Grün literarisch in seinem Werk „Meine Ausweisung aus Baden und meine Rechtfertigung vor dem deutschen Volke“ (Zürich 1843). Danach siedelte Grün 1843 in die preußische Rheinprovinz über, wo er in Köln Vorlesungen über Literatur- und Kunstgeschichte hielt, aber weiterhin vor allem journalistisch tätig war.

So übernahm er im Sommer desselben Jahres – nach wie vor in Köln lebend – die Schriftleitung des in Wesel bei der Verlagshandlung Bagel erscheinenden und bei Bagel auch gedruckten „Sprechers“. Nachdem ein unbekannter Autor am 10. Juni 1843 dort einen Artikel „Die Juden“ veröffentlicht hatte und sich darin über den – vermeintlich – mangelnden Integrationswillen der jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner verschiedener rheinischer Städte ausgelassen hatte, sah sich Grün zu einer Reaktion veranlasst. In einem seiner ersten im „Sprecher“ veröffentlichten Artikel schrieb er schon am 14. Juni 1843 eine scharfe Reaktion. Er entlarvte den ursprünglichen Artikel als „Meisterstück von Konfusion, Unlogik und raffinierter Grausamkeit“ und forderte stattdessen, die „Judenfrage“ leidenschaftslos und vorurteilsfrei zu diskutieren. Mit der Emanzipation der Judenfrage befasste Grün sich auch in seinem Werk „Die Judenfrage. Gegen Bruno Bauer“, das 1843 in Darmstadt erschien. Darin zeigt er sich als Anhänger der Trennung von Staat und Kirche. Sein Ideal war ein freiheitlicher Staat mit einem Nebeneinander verschiedener Religionen.

Der Druck der Zensoren auf den unter Grüns Ägide sich zunehmend radikalisierenden „Sprecher“ wuchs bis in den Herbst 1844 so stark an, dass er die Flucht nach vorn antrat und die Redaktion in Wesel abgab. Dass Grün im August 1844 Vater geworden war und zudem die Zahl der Abonnements in Wesel stark rückläufig war, mag Grün zusätzlich bestärkt haben.

Von Köln begab sich Grün über Brüssel nach Paris, wo er spätestens Anfang November 1844 angekommen sein muss. Im Folgejahr stellte er dort sein Hauptwerk „Die sociale Bewegung in Frankreich und Belgien“ fertig und war aus dem Exil für die „Trierische Zeitung“ tätig. 1848 kehrte er in seine deutsche Heimat zurück, lebte in Trier und wurde für den Bezirk Wittlich für die äußerste Linke in die preußische Nationalversammlung gewählt, aber 1849 wegen seiner Beteiligung an der Revolution 1848/1849 verhaftet. Im Januar 1850 wurde Grün freigesprochen und begab sich abermals ins Ausland, zunächst nach Belgien, wo er als Hauslehrer tätig war, und 1861 schließlich nach Italien. Auch diese Aufenthalte nutzte er vor allem als Schriftsteller. 1862 ließ Grün sich wieder in Deutschland nieder, wurde Lehrer an einer Handelsschule in Frankfurt am Main und hielt ab 1865 für drei Jahre Vorlesungen in verschiedenen rheinischen Städten. 1868 begab er sich nach Wien, wo er die Briefe und den Nachlass Ludwig Feuerbachs herausgab, über diesen eine zweibändige Biografie verfasste und am 18. Februar 1887 auch dort verstarb.

In Wesel ist das Wirken von Karl Grün in den politisch spannungsreichen Jahren des Vormärz nahezu vergessen.

 

(Autor: Dr. Heiko Suhr)