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Gedenkveranstaltung an die Pogromnacht 1938 am 9. November 2022

Seit vielen Jahren organisieren der Jüdisch-Christliche Freundeskreis Wesel e.V. und die Stadt Wesel gemeinsam eine Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Geschehnisse in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938.

In diesem Jahr wird die Veranstaltung von der Schauspielerin Anja Bilabel gestaltet. In ihrem literarischen Beitrag widmet sie sich deutschsprachigen Autorinnen während ihrer Verfolgung durch das NS-Regime, im Widerstand und im Exil. Im Einzelnen werden die Schriftstellerinnen und Lyrikerinnen Rose Ausländer, Gertrud Kolmar, Mascha Kaléko und Johanna Moosdorf vorgestellt.

Die Veranstaltung findet am Mittwoch, 9. November 2022, 19:00 Uhr, Städtisches Bühnenhaus Wesel statt. Die Veranstaltung wird im Bühnenhaus und nicht auf der Hinterbühne des Bühnenhauses durchgeführt.

Nach der Vorstellung findet der traditionelle Lichtergang zum jüdischen Mahnmal am Willibrordi-Dom statt.

Stern aus Metal mit Inschrift
Quelle: Flaggschiff Film

Hintergrund des Gedenktags

Die Hintergründe, die zur Reichspogromnacht führten, und die Geschehnisse in dieser Nacht gelten gemeinhin als die am besten dokumentierten Ereignisse der nationalsozialis-tischen Zeit. Folgende Tatsachen gelten inzwischen als unabweisbar:

  1. Die Aktionen des 9. und 10. November 1938 waren von oben zentral angeordnet.
  2. Sie waren nicht längerfristig geplant oder vorbereitet, sondern kurzfristig nach dem Bekanntwerden des Attentats von Paris initiiert worden.
  3. Sie wurden in erster Linie von Parteistellen der NSDAP und Einheiten der SA sowie Behörden insbesondere der Polizei und Feuerwehr durchgeführt.
  4. Nach ihrer Ingangsetzung nahmen auch nicht organisierte Menschen in fast allen Städten in nicht unerheblichem Maß an den Ausschreitungen teil; dies gilt insbesondere für die Plünderung jüdischer Geschäfte und Wohnhäuser, aber auch für tätliche Angriffe und körperliche Misshandlungen.

Das Novemberpogrom fällt in eine historische Konstellation, in der die "Judenpolitik" des nationalsozialistischen Regimes an einem Wendepunkt angelangt war. Es markiert Anfangs- und Endpunkt einer unmenschlichen, barbarischen Entwicklung. Die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 steht für den Antisemitismus in Deutschland und den Wandel hin zu einer Entwicklung, die in der Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden gipfelte. Am Ende stand die unfassbare Zahl von 6 Millionen ermordeter Menschen jüdischen Glaubens.

2016 wurde Ernest Kolman zum Ehrenbürger der Stadt Wesel ernannt.

Auch in Wesel wurden in jener Nacht zahlreiche Geschäfte jüdischer Inhaber geplündert und zerstört, Jüdinnen und Juden in ihren Wohnungen in „Schutzhaft“ genommen und ihre Wohnungen ebenso verwüstet wie das jüdische Gemeindehaus am Willibrordiplatz. Am Morgen des 10. November zündete die Weseler SS die Synagoge an. Um ein Übergreifen des gelegten Feuers auf die benachbarte Altstadt zu vermeiden, stellte die Freiwillige Feuerwehr eine Brandwache. Die Weseler SA sperrte den Brandort ab. Die Verwüstungen waren nicht auf den 10. November beschränkt.

Folge war, dass zahlreiche Jüdinnen und Juden die Ausreise beantragten. Wer blieb, wurde deportiert und ermordet. Während im Jahr 1933 noch fast 160 Menschen jüdischen Glaubens in Wesel lebten, war die einstmals so lebendige jüdische Weseler Gemeinde 1943 ausgelöscht. Alle ehemaligen Weseler jüdischen Glaubens waren geflohen, deportiert und zumeist umgebracht worden.

Ernest Kolman, gebürtiger Weseler und späterer Ehrenbürger der Stadt, erlebte die Pogromnacht in der damaligen Wohnung seiner Eltern in der Roonstraße in Köln. Die Wohnung der Eltern lag in unmittelbarer Nachbarschaft der jüdischen Synagoge. Ernest Kolman verstarb am 11. Januar 2021 im Alter von 94 Jahren in London.

Zur Künstlerin

Anja Bilabel wuchs in Berlin auf und begann nach dem Abitur ihre Schauspielausbildung an der Fritz-Kirchhoff-Schule in Berlin. Nach Abschluss des Schauspielstudiums wurde sie an das Thalia Theater in Halle engagiert. 2000 wechselte sie an das Stadttheater in Zittau. 2001 bis 2007 folgte das Engagement am Wolfgang Borchert Theater in Münster.

Seit 2007/8 ist sie deutschlandweit als Gastschauspielerin tätig und widmet sich außerdem ihrer Arbeit als Sprecherin im Radio und Synchronbereich.

Anja Bilabel spricht für das Studio Hamburg, das DeutschlandRadio Berlin, den Deutschlandfunk Köln, den mdr und den WDR.

Außerdem gründete sie den „Lauschsalon“ und ist mit ihren literarisch-musikalischen Programmen bundesweit unterwegs.

Ernest Kolman zusammen mit Wolfgang Jung vom Jüdisch-Christlichen Freundeskreis im Austausch mit Schülerinnen und Schülern.
Zum Jüdisch-Christlichen Freundeskreis Wesel e.V.

Der Jüdisch-Christliche Freundeskreis Wesel e.V. will mit seinen Aktivitäten an jüdisches Leben in Wesel und am Niederrhein erinnern. Der Jüdisch-Christliche Freundeskreis Wesel ist Ende der 1980er Jahre gegründet worden durch den damaligen Stadtdirektor Günter Faßbender. Die Gründung geht auf den 1988 in Wesel begangenen 50. Jahrestag der „Reichspogromnacht“ am 9./10. November 1938 zurück. Damit begann eine Aufarbeitung dieses dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte – auf lokaler Ebene, abseits von Erklärungen und Aussagen der großen Politik.

Mit dem Ereignis war die Einladung der noch lebenden ehemaligen Weseler Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens verbunden, deren Familien unter der Nazi-Diktatur vertrieben und ermordet worden sind. Mit dem Treffen wurde der Weg der Aussöhnung beschritten und der Dialog begonnen.

Dem Jüdisch-Christlichen Freundeskreis ist es ein Anliegen, die Erinnerung an die Geschehnisse während der Nazi-Diktatur nicht um des Erinnerns willen wachzuhalten. Erinnerungskultur - so das formulierte Ziel – darf nicht in der Vergangenheit verhaftet bleiben. Der Jüdisch-Christliche Freundeskreis will daran mitwirken, dass junge Menschen in Deutschland begreifen, was in deutschem Namen geschehen ist und das daraus auch ihnen eine Verantwortung erwächst.

Am 30. Oktober 2022 wurde dem Jüdisch-Christlichem Freundeskreis der Förderpreis des Lions Hilfswerk Wesel verliehen.

Erinnerung darf aber nicht zur Routine werden. Charlotte Knobloch, frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat dazu u.a. gesagt: „Der Nationalsozialismus entschwindet der Zeitgenossenschaft. Die Erlebnisgeneration stirbt – sie muss ihre Erinnerung an die Erkenntnisgeneration weitergeben. Wir müssen die nachfolgende Generation ermutigen, aus freien Stücken und eigener Überzeugung heraus ihre Verantwortung für das Vermächtnis deutscher Geschichte zu übernehmen: ‚Nie wieder!‘“

Charlotte Knobloch ist am 29. Oktober 2022 90 Jahre alt geworden. Im Rahmen eines Festaktes am 30. Oktober 2022 zu ihren Ehren sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über Charlotte Knobloch: „Sie ist uns allen ein Vorbild wegen ihres nie nachlassenden Engagements für die Versöhnung zwischen Juden und Nichtjuden – und auch für unsere Demokratie.“

Um Erinnerung wach zu halten, unterstützt der Jüdisch-Christliche Freundeskreis e.V. verschiedene Angebot.

Jährlich zum 27. Januar findet zur Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz eine Gedenkveranstaltung im Willibrordi-Dom statt. Sie wird im Wechsel von Schülerinnen und Schülern weiterführender Schulen in Wesel vorbereitet und durchgeführt.

Die Stadt Wesel ist 2019 dem Riga-Komitee beigetreten und unterstützt Jugendliche und Jugendgruppen, die nach Riga reisen wollen. Bereits in 2019 haben junge Menschen dieses Angebot wahrgenommen. Gegründet wurde das Riga-Komitee – initiiert durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge - im Jahr 2000. Aufgabe des Zusammenschlusses ist es, die Erinnerung an die etwa 25.000 nach Riga verschleppten und bestialisch ermordeten Menschen wach zu halten. Mit den Riga-Deportationen begann der Massenmord an den deutschen Juden.
Auch zahlreiche Weseler Jüdinnen und Juden wurden in Riga ermordet. Darunter auch die Eltern des Weseler Ehrenbürgers Ernest Kolman, Frieda und Martin Kohlmann. Die ältere Schwester von Ernest Kolman, Margrit Kohlmann, hat das KZ Riga überlebt. Sie wanderte nach ihrer Befreiung in die USA aus, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2016 lebte.

Dem Riga-Komitee gehören inzwischen mehr als 60 deutsche Städte an. Diese Städte haben gemeinsam, dass aus ihnen 1941/1942 jüdische Menschen nach Riga deportiert und ermordet wurden.

Der Beitritt zum Riga-Komitee ist ein weiterer Baustein der Weseler Erinnerungsarbeit an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und den Völkermord an der jüdischen Bevölkerung.

Gunter Demnig mit den ersten in Wesel verlegten Stolpersteinen

Zudem werden regelmäßig Stolpersteine verlegt vor den Wohnhäusern ehemaliger jüdischer Weseler Bürgerinnen und Bürger. Die nächste Verlegung von 15 Stolpersteinen findet voraussichtlich im Jahr 2023 statt.

Insgesamt gibt es momentan 141 Stolpersteine in Wesel, die an Mitglieder der ehemaligen jüdischen Gemeinde erinnern.